Demografischem Wandel aktiv begegnen
Während über die Gefahren des menschengemachten Klimawandels schon seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit diskutiert wird, hat sich der demografische Wandel in unserem Land lange unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit herangeschlichen. Anfang der 2000er Jahre wurde ein Überschuss an Personen im erwerbsfähigen Alter noch als das Hauptproblem der deutschen Gesellschaft diskutiert; Stichwort „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“. Zu Beginn meines Lehramtsstudiums wurden Studienanfänger noch davor gewarnt, ein Lehramtsstudium zu beginnen. Lehrer:innen gäbe es ohnehin zu viele.
Heute sieht es in unserem Land anders aus. Der Fachkräftemangel ist zu einer der größten Bedrohungen des Funktionierens unserer Gesellschaft geworden. Bereits jetzt fehlt sowohl den Unternehmen als auch dem Staat das Personal, um überhaupt das Tagesgeschäft bewältigen zu können. Dringend benötigte und bereits geplante Zukunftsprojekte können nicht umgesetzt werden. Ein Viertel (!!!) des gesamten Bundeshaushaltes fließt bereits jetzt in die Bezuschussung der Rentenkassen. Langfristig sind Ausbildung und Betreuung der jüngeren Generationen in Gefahr. Es droht nicht nur ein Fachkräfte- sondern ein allgemeiner Menschenmangel in Oberberg wie in Deutschland.
Während Wohnraum heute noch für die einen eine lukrative Wertanlage und für die anderen unerschwingliche Mangelware ist, könnte der demographische Wandel auch im Bereich des Wohnens zu starken Veränderungen führen. Bereits in 15 Jahren könnten wir in eine ähnlichen Situation geraten, in der sich Länder wie Japan oder China schon heute befinden: In einigen Regionen dieser Länder sind Immobilien tatsächlich nichts mehr Wert, weil dort einfach die Menschen fehlen.
Um die drohende Schrumpfung bei gleichzeitiger Überalterung unserer Gesellschaft mindestens zu verlangsamen, sind wir sowohl auf Migration als auch auf steigende Geburtenraten angewiesen. Letztere steigern wir in Deutschland jedoch nicht, indem wir versuchen das Rad der Zeit um 60 Jahre zurückdrehen. Die Geburtenrate können wir nur steigern, indem Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam daran arbeiten, dass Familie und Beruf endlich miteinander gut vereinbar werden. Dafür müssen Eltern durch bessere Infrastruktur unterstützt und durch gutes Arbeitsrecht geschützt werden. Dazu gehört auch, dass Frauen, Inter, Nichtbinäre, Trans und Agender-Personen (FINTA*) in Deutschland mehr Gleichberechtigung gegenüber Männern erfahren.
Derzeit ist Deutschland für dringend benötigte Fachkräfte aus dem Ausland nicht interessant, weil unsere Einstellung gegenüber ausländischen Fachkräften im Abschreckungsmodus der 90er Jahre hängen geblieben ist. Selbstverständlich müssen wir auch von Fachkräften einfordern, dass sie sich in unsere Gesellschaft integrieren. Selbstverständlich dürfen wir nicht zulassen, dass Fachkräfte aus dem Ausland gegen armutsgefährdete Menschen in Deutschland auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt gegeneinander ausgespielt werden. Aber solange wir die Anerkennung ausländischer Abschlüsse als bürokratischen Hürdenmarathon gestalten und solange gewisse Spitzenpolitiker für populistische Zwecke einen Kulturkampf zwischen Berlin-Kreuzberg und Bayern-Gillamoos um das „wahre Deutschland“ heraufbeschwören, solange werden wir im internationalen Wettbewerb um Arbeitskräfte verlieren.
Unser Gesellschaftssystem ist nicht darauf ausgelegt, mit einer schrumpfenden Gesamtbevölkerung und einer noch stärker schrumpfenden Arbeitnehmerschaft fertig zu werden. Umso wichtiger ist es, dass wir den demografischen Wandel nicht einfach über uns ergehen lassen. Ich möchte mich in Berlin dafür stark machen, dass die Bundespolitik einen stärkeren Beitrag bei der Gestaltung des demografischen Wandels leistet.